Die Gesamtheit der Symptome

In gleicher Weise, wie Arzneimittelprüfungen jede Arznei als das einzigartige Ensemble von Zeichen und Symptomen definieren, welche diese Arznei in gesunden Menschen erzeugen kann, definieren Homöopathen Krankheit als die Gesamtheit der beobachtbaren Reaktionen, die gleichermaßen charakteristisch für den Patienten sind.

Als wahre Widerspiegelung des inneren Zustands wird das Gesamtbild der Symptome zum Hauptziel der klinischen Untersuchung des Patienten, aber genauso auch die Suche nach der Arznei, die am besten zu diesem Gesamtbild passt.

Wenn man diesem Zusammenfügen von Symptomen, die ein vollständiges Portrait ergeben, genügend Zeit und Aufmerksamkeit schenkt, erweist es sich als bewundernswert reich und lebensnah.

Ein ausgebildeter Homöopath hat mit diesem komplexen Portrait von Symptomen eine Definition der Krankheit und des Zustands des Patienten an der Hand, welche die Situation des Patienten besser beschreibt als jede diagnostische Kategorisierung oder der Computerausdruck von Laborwerten, die von der Norm abweichen.

Andererseits ist die klinische Gesamtheit nur eine Arbeitsbeschreibung und benötigt nicht jede kleinste Symptomatik, die der Patient aufweisen mag, noch kann sie eine solche beinhalten.

Wie bei einer Arzneimittelprüfung, ist auch das Gesamtsymptombild des Patienten dann wirksam vollständig, wenn ein vernünftiges Abbild und die besondere eigentümliche Ausdrucksweise des Krankheitszustandes als Ganzes klar erkennbar ist.

Eine jede weitere Befragung fördert dann nur noch ein Mehr desselben Materials zutage.

Um diese Ausführungen zu illustrieren, lesen Sie nun den Fall einer älteren Patientin.

Diese Patientin kam mit vielen pathologischen Diagnosen, herkömmlicher Medikation sowie einer Reihe von Zeichen und Symptomen in die Praxis, die alle miteinander vermischt waren – wie es nun einmal die übliche Erfahrung ist.

Ganz abgesehen davon, ob und in wieweit das Behandlungsergebnis den Arzneien zuzuschreiben ist – das jedoch ist eine völlig andere Frage –, ist es wert, die Geschichte der Patientin hauptsächlich aus folgendem Grund schildern:

Es soll nämlich gezeigt werden, weshalb die Untersuchung einer Erkrankung, mit ausreichender Sorgfalt mit dem Ziel vorgenommen, ein wirksames homöopathisches Arzneimittel für diese gesundheitliche Störung aufzufinden, eine enge Vertrautheit mit der erlebten Erfahrung des Patienten erforderlich macht.

Dazu gehört eben auch die gesamte Bandbreite menschlichen Denkens und Fühlens.

Ein Fall von Karpaltunnel-Syndrom und Lungenkrebs

Die 78jährige Patientin kam mit der Diagnose eines nicht operablen Lungenkrebs in die Praxis. Wegen dieser Lungenkrebserkrankung hatte sie sich kurz zuvor einer Reihe von Strahlenbehandlungen unterzogen. Diese rüstige und energische Dame klagte über ein Beengungsgefühl und eine Empfindung von Druck in der Brust beim Gehen. Überdies hatte sie einen trockenen Husten, der sie würgen ließ und das Empfinden zu ersticken verursachte, so dass sie nach Luft ringen musste. Obwohl sie sich während des größten Teils ihres Lebens bei recht guter Gesundheit befunden hatte, zeigte ihre Krankengeschichte unter anderem ein Aneurysma (eine permanente Erweiterung des Querschnitts von Blutgefäßen in Folge von Gefäßwandveränderungen) der Bauchaorta, Divertikel (das sind Ausstülpungen vor allem im Bereich der Darminnenwände), Asthma, Bluthochdruck und eine Unterfunktion der Schilddrüse. Gegen alle diese Erkrankungen nahm sie jeden Tag eine beeindruckende Reihe von Diuretika, Schilddrüsenhormonen, Betablockern, Bronchospasmolytica und blutdrucksenkenden Mitteln ein.

Die weitere Befragung enthüllte, dass ihre Fußsohlen schmerzten, wenn sie ging, und dass ihre Beine wackelig waren und leicht ermüdeten. Das führte dazu, dass sie wie betrunken einhertaumelte und sich an Gegenstände klammern musste, um wieder festen Tritt zu bekommen. All diese Leiden führte die Dame wie in einem Katalog in stoischem, nüchtern sachlichem Ton auf, ohne dass sie Anzeichen von Furcht oder Qual offenbarte – so als sei dieser ganze Jammer etwas, das man eben zu erwarten und hinzunehmen habe. Weitere Beschwerden bestanden in Schmerzen und Steifheit der äußeren Halspartien in Verbindung mit Arthrose der Halswirbelsäule, einem Karpaltunnelsyndrom in beiden Handgelenken, sowie stechenden Schmerzen in beiden Nieren, hauptsächlich in der rechten Niere am Morgen und in der linken Niere zur abendlichen Bettzeit, doch auch diese ignorierte sie weitestgehend in stoischem Gleichmut. Seit kurzem wurde ihr Wohlbefinden jedoch dramatisch durch einen schweren Kopfschmerz eingeschränkt, welcher hoch zur rückwärtigen Seite ihres Halses ausstrahlte und von Appetitverlust begleitet war, so dass sie innerhalb weniger Wochen zehn Pfund Gewicht verloren hatte.

An diesem Punkt unseres Anamnesegespräches gab die Frau zu, dass ihre Krebserkrankung sie wohl unzweifelhaft das Leben kosten würde, und dass sie sehr müde sei und sich bereit fühle, sich aufzugeben. Jedoch würde sie hauptsächlich deshalb gerne ihr Leben fortsetzen, weil sie Töchter habe, die es nicht ertragen könnten, sie gehen zu lassen. Aufgrund dieser oben genannten und anderer Informationen erhielt die Patientin eine Gabe Calcarea carbonica C200, einzunehmen alle zwei bis sechs Monate. Trotz des inoperablen Krebsleidens und all ihrer unterschiedlichen Erkrankungen und Medikationen führte die Frau noch weitere drei Jahre ein im Großen und Ganzen glückliches und produktives Leben.

Schließlich ist noch zu sagen, dass die Gesamtheit der Symptome, als umfassende Störung des Energiehaushalts, der sich nicht auf irgendein bestimmtes Organ beschränkt, stets auch die geistigen Beeinträchtigungen und die Veränderungen des Gemüts und ebenso die körperlichen Symptome mit einschließt, und zwar genau so, wie wir es in den Arzneimittelprüfungen wiederfinden.

Während das Anamnesegespräch Symptome aller Art zutage fördert und es keine Notwendigkeit für a priori-Annahmen gibt, dass bestimmte Gemütszustände körperliche Symptome „verursachen“ oder dass umgekehrt körperliche Beschwerden zum Auftreten bestimmter Gemütssymptome führen, haben solcherlei Zustände seelischer Unausgeglichenheit doch oft ein großes Gewicht bei der Wahl der Arznei, und zwar aus zwei guten Gründen.

Zunächst einmal besteht beim Patienten die Neigung, beim Erzählen der Beschwerde die körperlichen Symptome auf einen speziellen Körperteil örtlich zu beschränken.

Diese Gegebenheit wird angedeutet durch das besitzanzeigende Fürwort „mein“ (wie in „mein“ Rücken oder „mein“ Arm, Kopf, Magen, Herz usw.).

Dagegen haben Gemütszustände einen Bezug dazu, wie der Patient sich als Ganzes fühlt, so dass in diesem Fall die Patienten das Pronomen „ich“ verwenden, um sie zu beschreiben (wie bei „ich bin“ traurig oder „ich bin“ glücklich, zornig, ängstlich oder was auch immer).

Weil die grundlegende Energiestörung allumfassend und systemisch ist, verleiht die Symptomgesamtheit solchen Symptomen eine Priorität, die den Krankheitszustand des Patienten als Ganzes enthüllt.

Zweitens ist ein unvollständig und damit nur unzulänglich aufgenommener Fall eine bunte Mischung von heterogenen, auf den ersten Blick nicht miteinander in Zusammenhang stehenden Einzelheiten.

Hingegen sind die gemeinsamen Fäden, die sie miteinander vereinen, augenfällige, sonderliche oder ungewöhnliche Charakteristika, die einen Patienten von einem jeden anderen Patienten mit derselben klinischen Diagnose abheben.

Unterscheidungsmerkmale dieser Art findet man hauptsächlich in der Persönlichkeit und dem Charakter des Patienten.

Diese differenzierenden, individuell typischen Merkmale zeigen sich auch in wichtigen Bereichen der Biographie, wie zum Beispiel in der Karriere, den Interessen und den persönlichen Beziehungen des Patienten.

Wenn man die soeben beschriebene Beschaffenheit der Krankheit und das Gefühl für ihr Wesen mit dem Blick auf die Gesamtheit der Symptome betrachtet, so bildet dieses Gewebe aller erwähnten Komponenten zusammen mit dem „Gefühl für das Wesen“ der Erkrankung einen komplexen und oft verworrenen Strang psychologischer und physiologischer Fäden.

Dieses Gewebe liefert dem homöopathischen Therapeuten oft die Elemente der Beständigkeit einer tieferen Bedeutung, und zwar entweder auf direkte Weise als persönlich Erzähltes, oder indirekt in Form eines bioenergetischen Kerns, um den herum sich die psychosomatischen Details auf natürliche Weise gruppieren.

Ein Fall von allergischem Asthma

Nach zweieinhalb Jahren einer Behandlung mit Injektionen zum Zweck der Hyposensibilisierung gegen Allergien, gegen welche die Behandlung einige heftige Reaktionen ausgelöst hatte, suchte eine 31jährige Ehefrau und Mutter nun die homöopathische Behandlung wegen eines chronisch gewordenen Asthmas und einer ebenfalls seit langem bestehenden Sinusitis. Seit ihrer Kindheit wurde die Frau von einer nasal klingenden Stimme und viel Niesen geplagt, und als Erwachsene fürchtete sie nun hauptsächlich den Herbst, der typischerweise eine Verstopfung ihrer Nasennebenhöhlen mit sich brachte. Die mit dieser Beschwerde einhergehende Empfindung beschrieb sie, als hänge ihr „ein schweres Gewicht im Gesicht“. Diese Empfindung war begleitet von dickem, salzigem, grünlich-gelbem Schleim, welcher ihr den Rachen hinab in die Kehle tropfte und oft eine ausgewachsene Nebenhöhlenentzündung nach sich zog.

Außerdem neigte die Patientin zu Blähungen, die zu einer Auftreibung des Leibes führten, insbesondere während der Schwangerschaft. Sie ekelte sich heftig vor Fleisch und aufdringlich riechendem Käse, aber gleichzeitig aß sie unmäßige Mengen an Brot, Nudelgerichten und Kohlehydraten, seitdem sie sich entschlossen hatte, eine bestimmte Ernährungsweise, die sog. Dean-Ornish-Diät, mitzumachen. Sie hatte jede Substanz aus ihrem Ernährungsplan entfernt, von der sie wusste, dass sie krebserregend sei, und sie machte den Eindruck, als sei sie schon fast besessen ängstlich in Bezug auf jeden Aspekt ihrer Gesundheit. Übertrieben ängstlich hinsichtlich Krankheit war sie schon als Kind gewesen, und sie fühlte sich jetzt als Erwachsene immer noch äußerst unbehaglich, wann immer sie beispielsweise eine Freundin im Krankenhaus besuchen musste. So traf sie sorgfältige Vorkehrungen, um den Kontakt mit „Keimen“ zu vermeiden. Sie hatte in der Vergangenheit bereits einige Panikattacken erlitten, die im Zusammenhang mit ihrer Gesundheit gestanden hatten. Es handelte sich bei der Patientin um eine sehr gesetzestreue Dame, die Vorschriften unter allen Umständen einzuhalten bemüht war. Sie führte ein stark familienorientiertes Leben. Und entsprechend lebte sie in leidenschaftlicher Hingabe an ihre Eltern, ihren Ehemann und an ihren kleinen Säugling und deklamierte, dass „die Familie das Einzige auf der Welt ist, worauf du dich verlassen kannst!“

Auf der Grundlage dieser und anderer Informationen erhielt sie zwei Gaben Kalium arsenicosum C200. Sechs Wochen später, während des Höhepunkts ihrer (bisher üblicherweise) schlimmsten Jahreszeit, befanden sich ihr Asthma, ihre Allergien und die Nebenhöhlenbeteiligungen auf einem viel erträglicheren Niveau, als die Patientin dies bisher gewohnt gewesen war. Sie konnte inzwischen sogar problemlos ihre Freundin besuchen, deren staubiges Haus und deren Katze in der Vergangenheit enorme Herausforderungen an sie gestellt hatten. Diesmal kam es nicht mehr zu den grünlich-gelblichen Absonderungen aus den Nebenhöhlen, und auch die allgemeine Ängstlichkeit der Patientin hatte sich deutlich abgeschwächt.